Holz auf Jesu Schulter GL 291
Gehen als Element der Liturgie der österlichen Dreitages-Feier
Pessach – „Vorüberschreiten“ – so heißt die zentrale jüdische Gedächtnisfeier an den Auszug aus Ägypten. Im christlichen Osterfest, dem die Karwoche vorausgeht, hat sich der Aspekt des (Durch-)Schreitens in den liturgischen Prozessionen erhalten: als Nachvollzug des Weges Jesu in den Tod und zur Auferstehung. Große Prozessionen sind vorgesehen am Palmsonntag, am Gründonnerstag zur Ölbergandacht, am Karfreitag zur Kreuzverehrung und – in der Osternacht – oft die Auferstehungsprozession.
Prozessionslied für Kreuzweg und Kreuzverehrung
Ein Prozessionslied für die Karwoche ist das neu ins Gotteslob aufgenommene Lied „Holz auf Jesu Schulter“ (GL 291). Vom Typus her handelt es sich um eine moderne Leise. Dies waren ursprünglich mittelalterliche Kirchenlieder, die auf kyrie eleison enden und zu Prozessionen, gelegentlich zum Einzug gesungen werden (wobei dann der Kyrie-Gesang entfällt). Unser vorliegendes Lied mag sich gut für eine Kreuzweg- oder Kreuzverehrungs-Prozession am Karfreitag eignen.
„Sieh wohin wir gehn“,
heißt es im Refrain des Liedes, der uns pilgernde Menschen in den Blick nimmt, die wir selbst unausweichlich auf den Tod zugehen. Das singende Gottesvolk bittet den mit dem Kreuz voranziehenden Kyrios um sein Erbarmen, auf dass es von Jesus mitgezogen werde: „Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.“
Zur Gestalt des Liedes
Das Lied besteht aus sechs Strophen. Die erste und letzte Strophe bilden eine Klammer um zwei Doppelstrophen (2&3, 4&5). Die beiden Klammerstrophen 1 und 6 lehnen sich thematisch an den gregorianischen Kreuzeshymnus „Crux fidelis“ an: das Kreuz Christi, besungen als „Baum des Lebens, dem keiner gleich, (...) keiner so an Früchten reich.“
Besonders angesprochen haben mich zwei Textzeilen aus den Strophen 4 und 5. Zum einen der Vers: „Streng ist Gottes Güte, gnädig sein Gericht.“ Gott bleibt sich selber treu, auch wenn wir untreu werden. Sein Gericht ist nicht Verurteilung, sondern Aufrichtung des gefallenen Menschen. Die paradoxe Rede von „Gottes strenger Güte“ zeichnet ein Gottesbild, das wir uns aneignen und verkünden sollten.
Die 5. Strophe rührt an einen Kernbereich des Glaubens, nämlich an den Zweifel: „Denn die Erde jagt uns auf den Abgrund zu. Doch der Himmel fragt uns: Warum zweifelst du?“ Der Glaubenszweifel, eine der größten Herausforderungen des „mündigen Christen“ in unserer aufgeklärten Zeit, stellt uns oft vor die Frage: Sind wir wirklich erlöst durch das Kreuz Jesu Christi? Vielleicht löst sich unser Zweifel nicht dadurch, dass wir an Gott glauben. Vielleicht füllt Gott vielmehr selber die Leerstelle unseres Zweifels, indem er an uns glaubt. Auch das ist eine Paradoxie, die in einem Gedicht von Andreas Knapp so klingt:
„vielleicht“
ist unsere sehnsucht nach gott
die flamme seiner gegenwart
und unser zweifel der raum
in dem gott an uns glaubt (*)
Dr. Wolfgang Kimmel
(*) aus: Andreas Knapp, Höher als der Himmel, Würzburg 2010, 19.