Von Gott berührt. Zur rituellen Qualität des Gottesdienstes
Ziel der Tagung war eine Sensibilisierung, dass Gottesdienst wesentlich „rituelles Handeln“ ist. In Auseinandersetzung mit den Chancen und Grenzen von „Ritualität“ wollte man Bedingungen für qualitätsvolles Feiern nachgehen.
Liturgiewissenschaftler Reinhard Meßner, Innsbruck, skizzierte in seinem als Grundlegung konzipierten Beitrag „Ritualität“ als außeralltägliches, formalisiertes, regelgebundenes und primär körperliches Handeln, das letztlich nur durch Teilnahme erlernt werde und im leibhaften Mitvollzug Wirkung entfalte. Dabei konstatierte er als Problem, dass Liturgie häufig nicht mehr als rituelles Handlungsgeschehen gesehen und verstanden werde und dadurch auch ihre lebensprägende Kraft verloren gehe. Denn im Ritual werde die Welt nicht so dargestellt, wie sie ist, sondern antizipierend so, wie sie in Vollendung der Wirklichkeit Gottes sein wird. Deshalb könne es nicht das Ziel sein, die Liturgie an das Leben anzupassen, vielmehr sollte das Leben vom gefeierten Glauben geformt werden.
Die Gesetzmäßigkeiten von Ritualen als gemeinschaftliche, überindividuelle Handlungsform gelten auch für die Sprache als Teil dieser Vollzüge: Das komplexe und hochdifferenzierte Sprechhandeln im Ritual ist analog zur Poesie mehr als nur Kommunikation, wie Alexander Zerfaß, Professor für Liturgiewissenschaft in Salzburg, seinen Vortrag programmatisch überschrieb. Sprache im Ritual will in Form und Inhalt mit einer gewisse Distanz zur Alltagskommunikation einen außeralltäglichen Raum eröffnen, der den Alltag überschreiten lässt und es den Einzelnen ermöglicht, auf ihre je eigene Weise dem im Ritual transportierten Sinnüberschuss zu begegnen – im gottesdienstlichen Ritual dem letztlich nicht sagbaren Geheimnis Gottes. Das setze freilich auf Seiten aller Teilnehmenden voraus, sich auf die Regeln dieser außeralltäglichen Handlungsform einzulassen. Die in Wien lehrende Professorin für Gregorianik und Liturgik, Antanina Kalechyts, analysierte Musik als integrierenden Bestandteil des gottesdienstlichen Handelns. Dabei betonte sie die Gemeinschaft und Glauben stärkende Kraft von Musik und die heilsame Wirkung.
In Workshops konnten die Teilnehmer:innen einzelnen Aspekten dieser grundsätzlichen Überlegungen vertiefend nachgehen: der Entfaltung des Handelns im Kirchenraum, der differenzierten Wahrnehmung unterschiedlicher Sprechhandlungen in der Liturgie und dem angemessenen Verkündigen des Wortes Gottes, Bewegung und Gestik bei der musikalischen Gestaltung von Gottesdiensten, den sinnenfälligen Ausdrucksformen der sich im Feiern ereignenden Begegnung mit Gott, aber auch „säkularen Ritualen“, dem „Feiern mit Menschen mit Demenz“ und einem Angebot des Bistums Essen, die Qualität des gottesdienstlichen Feierns durch „Gottesdienstberatung“ zu verbessern.
Sorgfältig, kunstvoll, liebevoll
„Sorgfältig, kunstvoll, liebevoll“ müssten Gottesdienste gefeiert werden, damit sie „ankommen“, so Thomas Bogensberger, Verantwortlicher für Gottesdienstübertragungen beim ORF in Wien. Er stellte Sequenzen von im Fernsehen übertragenen Gottesdiensten vor, die bei den Rezipient:innen besonders positive Resonanz ausgelöst hatten. Dass manches davon nicht unbedingt liturgiewissenschaftlichen Standards entsprach oder die am Vormittag vermittelten Gesetzmäßigkeiten rituellen Handelns unterlief, wurde als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft deutlich. Hier wäre eine vertiefende Reflexion etwa im Rahmen eines Werkstattgesprächs lohnend!
Damit sind bereits Grundspannungen angesprochen, die sich im Verlauf der Tagung mehrfach manifestierten: etwa die Spannung zwischen starken individuellen Erwartungen und gemeinschaftlichem Vollzug oder jene zwischen (liturgiewissenschaftlich) hohen Ansprüchen und der gelebten Praxis. Der hier wahrgenommene Graben hat seinen Grund auch in einem unterschiedlichen Verständnis von „Ritual“ / „rituellem Handeln“: Die einen verbinden damit traditionskontinuierliche Feiern des Glaubens der Kirche, die wesentlich auf Wiederholung angelegt und folglich in Form und Sprache stilisiert und verdichtet sind; andere verstehen unter rituellem Handeln zeichenhafte, symbolische Vollzüge, die beim Leben von Menschen ansetzen und situativ flexibel sein müssten, um in der pastoralen Begleitung fruchtbar zu werden.
Im Kontext einer begrifflichen Annäherung formulierte der Direktor des Pius-Parsch-Instituts Klosterneuburg, Andreas Redtenbacher, in Anlehnung an einen wirtschaftlichen Qualitätsbegriff für die Liturgie das Kriterium, dass das Tun den tragenden Grund des Handelns angemessen erfahrbar machen muss. Rituelle Qualität müsse „die Kundenfreundlichkeit Gottes sichtbar, aber auch wirksam werden lassen“.
Eine Balance findenl
Eine kritische Bestandsaufnahme zur Ritualität in der liturgiewissenschaftlichen Diskussion unternahm der Erfurter Professor für Liturgiewissenschaft, Benedikt Kranemann, vor dem Hintergrund neu entstehender Liturgien – etwa im Bereich von Segensfeiern – und vor dem Hintergrund einer Kirche in dramatischer Veränderung. Denn jüngste Erhebungen zeigen, dass Liturgie heute bis hinein in die innersten Bereiche nur mehr für eine ganz kleine Minderheit „Quelle und Höhepunkt“ (vgl. Liturgiekonstitution Art. 10). Kranemann setzte bei Erkenntnissen von kulturanthropologischen Ritualforschungen an. So lehre etwa die breit erforschte Ritualdynamik, dass Rituale als menschliche Handlungsabfolgen bei aller Vorgegebenheit, die es zu achten gelte, grundsätzlich veränderbar sind und sich abhängig vom kulturellen Kontext auch verändern (müssen). Auf die Liturgie bezogen gehe es um eine ausgewogene Balance zwischen der Erstarrung in der standardisierten und relativ invarianten Form auf der einen Seiten und der völligen Beliebigkeit auf der anderen. Beide Extreme, mit denen zugleich heutige Probleme im Bereich von Gottesdiensten angesprochen sind, seien für eine Gemeinschaft, die Rituale verantwortet, identitätsgefährdend. Veränderungen liturgischer Rituale bedürften deshalb des genauen Beobachtens von Entwicklungen und ihre wissenschaftliche Begleitung. Darüber hinaus müsse Liturgiewissenschaft – so Kranemann – die legitime Rezeptionsvielfalt liturgischer Rituale und die in ihnen reproduzierten Machtkonstellationen im Blick haben und untersuchen, wie Gläubige auf breiter Ebene in die Weiterentwicklung liturgischer Rituale einbezogen werden können.
In seinen Wahrnehmungen zur Qualität im Gottesdienst aus pastoraltheologischer Sicht erinnerte der Wiener Pastoraltheologe Johann Pock daran, dass Rituale entgegen Prognosen in den 1960er-Jahren immer noch bedeutsam seien, aber längst nicht mehr nur im kirchlichen Bereich. Menschen entscheiden ihre Teilnahme an einem Ritual heute nicht mehr aufgrund normativer Vorgaben, sondern frei und situativ, wie es zum Lebensablauf, biografisch und anlassbezogen passend scheint, weshalb auch in der Liturgiewissenschaft verstärkt über Kasualien nachgedacht werden müsse. Zudem gehöre es zur Signatur der Postmoderne, dass Menschen sich aufgrund der facettenreichen Vielfalt individualistischer Lebensentwürfe schwer in einem gemeinsamen Ritual einfinden. Vielmehr nutzen sie nur jene Angebote, die ihren Erwartungen entsprechen, und es entwickeln sich – auch abseits von kirchlichen Angeboten – neue Formen. Dem entspricht, dass offensichtlich nicht das Merkmal von „Qualität“ schlechthin existiert. Qualität kann nur an Kriterien gemessen werden, die letztlich dialogisch auszuhandeln sind; auch ein Verbessern der Qualität von Liturgie lässt sich heute nicht mehr normativ vorschreiben, sondern nur im direkten Gespräch mit Beteiligten vor Ort. Abschließend thematisierte der Pastoraltheologe die enge Verschränkung von Liturgie mit den anderen Grundvollzügen und die zentrale Bedeutung der gottesdienstlichen Qualität für das Kirche-Sein und Kirche-Werden. Als Auftrag aus dem gemeinsamen Ringen um Theorie und Praxis des Gottesdienstes nehme er – so Pock – von dieser Tagung mit, dass die Fachdisziplinen in diesem Feld verstärkt kooperieren müssten.
Die Vorträge des Symposions können in Heft 1/2023 der Zeitschrift Heiliger Dienst nachgelesen werden, das für Frühjahr 2023 geplant ist und ab sofort im Österreichischen Liturgischen Institut bestellt werden kann: www.liturgie.at; E-Mail: oeli@liturgie.at.