WAHLE, Stephan: Das Fest der Menschwerdung. Weihnachten in Glaube, Kultur und Gesellschaft. Herder 2015. Hardcover (432 S.). ISBN: 978-3-451-34800-6.
Alle Jahre wieder … kommt – voraussagbar wie Weihnachten – gerade im kirchlichen Bereich die Kritik über die zunehmende Kommerzialisierung des Festes, seine Verkitschung und Säkularisierung hin zu einer gefühlsbetonten Selbstinszenierung von Gesellschaft und Familie. Überraschend anders und inspirierend ist da der Zugang der vorliegenden Untersuchung. Stephan Wahle, Leiter der Arbeitsstelle Liturgie und Kultur an der Uni Freiburg, wertet vorurteilsfrei Zeugnisse der gesellschaftlichen Weihnachtskultur aus und vermag darin Grundintentionen des christlichen Festes wiederzuentdecken.
Ziel der Publikation,
der überarbeiteten Fassung von Wahles 2014 an der Uni Freiburg angenommenen Habilitationsschrift, ist die Suche nach Gründen für die Akzeptanz wie auch für die Kritik des Weihnachtsfestes in einer pluralen Gesellschaft und die (Neu-)Bestimmung seiner theologisch-anthropologischen Bedeutung (vgl. 13).
Inhalt - Grundlagen des Weihnachtsfestes
Dazu werden in einem ersten Teil zunächst biblische und historische Grundlagen des Weihnachtsfestes (45–80) entfaltet. Leitend ist dabei die Erkenntnis, dass biblische Geburts- und Kindheitsgeschichten auf dem Fundament der Ostererfahrung gründen, und die Heilsbedeutung der Geburt Jesu im Licht des Ostergeschehens zu verstehen ist. Die Untersuchung von Entstehung und Verbreitung der Geburtsfeste Jesu Christi (81–107) im Westen (25. Dezember) und im Osten (6. Jänner) zeigt auf, wie sehr die im 4. Jahrhundert parallel neu aufkommenden christlichen Feste im Kontext damaliger gesellschaftlich-kultureller Entwicklungen zu verorten sind (vgl. 106). Bisherige Entstehungshypothesen erweisen sich dabei als überholt. Ein weiterer Abschnitt zeichnet die Entwicklung des Weihnachtsfestkreises (109–138) und der Weihnachtsliturgie im römischen Ritus nach.
Theologie und Liturgie des Weihnachtsfestes
Der zweite große Teil untersucht Theologie und Liturgie des Weihnachtsfestes (141–225) beginnend mit der theologischen Verhältnisbestimmung von Ostern und Weihnachten (141–173). Nach Darlegen unterschiedlicher soteriologischer Konzepte in der Tradition arbeitet Wahle das Verständnis des liturgischen Feierns im Sinne des Zweiten Vatikanums als Vergegenwärtigung des Paschamysteriums heraus und erschließt anhand der liturgischen Propriumstexte den Sinngehalt der katholischen Weihnachtsgottesdienste (176–201). Das führt ihn zu dem Schluss: Auch Weihnachten ist ein „Fest der Erlösung und der Freiheit, weil durch die Inkarnation die Würde des Menschen wieder hergestellt und die Schöpfung erneuert ist“ (200). Gefeiert wird dasselbe volle Erlösungsgeschehen wie zu Ostern – zu Weihnachten eher fokussiert auf die Gestalt des Erlösers, zu Ostern mehr auf das Werk der Erlösung (vgl. 191). Schließlich werden die verschiedenen heutigen Gottesdienstformen auf den Prüfstand gestellt und in ihrer konkreten Feiergestalt kritisch reflektiert: die Christmette in der Nacht, Krippenfeier, Wort-Gottes- und Vigil-Feiern, kirchenmusikalische Andachten, Weihnachtslob und kleinere Gottesdienstformen. Neben zahlreichen Anregungen für die gemeindliche Praxis vermittelt dieser Abschnitt das Plädoyer, in der Weihnachtszeit besondere pastoralliturgische Akzente in der Vielfalt der möglichen Formen zu setzen. Denn davon kann „ein missionarischer Anstoß und ein diakonaler Dienst an vielen Menschen ausgehen, sofern die Gottesdienste durch Form und Inhalt christlichen Glauben mit heutiger Lebenswelt zusammenbringen“ (224).
Weihnachten als Phänomen in der heutigen Gesellschaft
Eine liturgiewissenschaftliche Erforschung des Weihnachtsfestes kann sich heute nicht mehr auf eine Analyse und Kommentierung der liturgischen Texte beschränken. Mit dem Blick auf Transformationsprozesse des Festes in Kultur und Gesellschaft und mit der Frage nach der Bedeutung des Weihnachtsgeschehens für Menschen von heute, gilt es auch Quellen auszuwerten, die zumeist in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen verhandelt werden (vgl. 13): Brauchtum, Lieder, biografische Zeugnisse und Erfahrungsberichte. Der dritte große Teil der Studie (229–333) präsentiert in diesem Sinn eine Fülle an (geschichtlichen) Informationen zu Krippe und Weihnachtsspiel, zu Weihnachtsbaum und Gabenbringern (Christkind, Nikolaus, Weihnachtsmann/Santa Claus) und gibt Einblicke in die Weihnachtskultur anderer Nationen sowie bei Muslimen und im Judentum (271–274). Wahle konstatiert, dass sich der öffentliche Raum in der Zeit vor und um Weihnachten zu einem „Festraum“ wandelt und sich als „Sehnsuchtsraum“ (vgl. 251) zeigt. Daneben gibt es vor allem die „intime Dimension“ von Weihnachten im Heiligabend als Familien- und Kindheitsritual (277—297), das bis heute geprägt ist von seiner Entstehung im Bürgertum des 19. Jahrhunderts und als „heiliger“ Zeit-Raum verstanden werden kann (vgl. 284, 287f.). Weihnachten erweist sich hier als ein „existenzielles Deutungslabor und als Brennpunkt des Lebens, in dem durch die Geburt eines Kindes „Gegebenheit, Geschichtlichkeit und der Wandel des Lebens bewusst werden“ (vgl. 289).
Weihnachtslieder
Den Abschluss machen Glaubenserfahrungen im Spiegel der Weihnachtslieder (299—333), traditioneller wie moderner, die von ihrer Entstehung her und in ihrer Wirkgeschichte vorgestellt und inhaltlich gedeutet werden. Insgesamt kommt Wahle zum Schluss:
Auch die postmoderne Weihnachtskultur hält Grundintentionen des christlichen Festes im öffentlichen Raum präsent und „trägt ein messianisches Element in den Alltag und die Gesellschaft hinein. […] Weihnachten ist deshalb weiterhin ein religiöses Fest, auch wenn es vielfach nur noch als kulturelle Institution erscheint“ (350).
Liturgiewissenschaftliche Forschung im Schnittfeld von Theologie und Kulturwissenschaften
Den spezifischen Ausführungen zum Weihnachtsfest vorangestellt sind – nach einer Einleitung – methodische, wissenschaftsgeschichtliche und hermeneutische Überlegungen (17—41), in denen neben dem Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit insbesondere auch Quellen und Methoden abgesteckt werden: Liturgie, gefeierte Gestalt des Glaubens, wird heute als Teil der Kultur einer Gesellschaft verstanden. Damit werden für die liturgiewissenschaftliche Forschung, angesiedelt im Schnittfeld der historischen, systematischen und praktisch-theologischen Fächer, auch kulturwissenschaftliche Fragestellungen, Quellen und Herangehensweisen relevant: „Aufgabe der Liturgiewissenschaft ist es, die Weite religiös-ritueller Praxis zu erforschen, in ihrer biblischen, österlichen, pneumatischen oder communionalen Ausrichtung zu untersuchen und die Nähe oder Differenz zur Liturgie der Kirche zu bestimmen“ (35 f.). Dafür kann Wahle bei Balthasar Fischer anknüpfen, der bereits 1967 zwischen „liturgiefeindlicher“, „liturgieergänzender“ und „liturgieverwandter Volksfrömmigkeit“ differenzierte (vgl. 36). Für Wahle bedeutet das: „Eine tätige, persönliche Teilnahme an der Liturgie der Kirche ist nicht jenseits, sondern nur im Austausch mit populärer Religiosität möglich“ (37). Dabei kommt der sinnlich-ästhetischen Erfahrung eine wesentliche Rolle zu.
Ein Kompendium für alle, die etwas über Weihnachten wissen wollen
Trotz dieser wissenschaftstheoretischen Überlegungen am Beginn ist das Buch für einen breiten Leserkreis über die Fachwelt hinaus geschrieben: ansprechend gestaltet und trefflich illustriert, gut lesbar und unterhaltsam. Das einzige, was man vermissen mag: ein Register, das die Fülle der Inhalte dieses Handbuchs zu Weihnachten noch komfortabler erschließt als es die recht übersichtliche Gliederung ohnehin vermag.
Christoph Freilinger Salzburg/Linz