Die Sequenz Dies irae, 1570 verbindlich in die römische Totenmesse aufgenommen, entfaltete eine weit über die katholische Kirche hinausgehende und bis heute feststellbare kulturelle Wirkung. Seit dem Bildungsbürgertum des frühen 19. Jahrhunderts als Angst und Schrecken
einflößend wahrgenommen, wurde die Sequenz nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder aus der Totenliturgie eliminiert, weil sie die österliche Hoffnung auf Erlösung zu verdunkeln schien – zu unrecht, wie eine Analyse von Form und Inhalt zeigt: Der Gesang ist ein Stück biblisch fundierte, persönlich gewendete Rechtfertigungstheologie.
Prof. Dr. Ansgar Franz
ist Professor für Liturgiewissenschaft und Homiletik an der Johannes Gutenberg-
Universität Mainz und Leiter des Mainzer Gesangbucharchivs.
Harald Buchinger
„Komm!“ – Wer, wann, zu wem?
Was sich verändert, wenn man ein Lied (nicht) verschneidet
Abstract: H|D 75 (2021) 227–233
Das ursprünglich als Weihnachtshymnus verfasste Adventlied Komm du Heiland aller Welt verdichtet das ganze Christusereignis von der Entäußerung des göttlichen Logos in der Menschwerdung bis hinab in das „Reich des Todes“, um die gefallene Menschheit zum Vater heimzuführen. Die Auslassung einzelner Strophen in aktuellen Gesangbüchern verstellt teilweise diesen österlichen Zusammenhang; vor allem aber geht mit der ersten Strophe des ambrosianischen Hymnus eine wesentliche Pointe verloren: Der Gott Israels wird als Erlöser der „Heiden“ erwartet, also derer, die nicht zu Israel gehören.
Prof. Dr. Harald Buchinger
ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Fakultät für Katholische Theologie
und Director des Centre for Advanced Studies „Beyond Canon_“ der Universität
Regensburg sowie Direktor des Institutum Liturgicum Ratisbonense.
Oliver Achilles
Führe uns nicht in Versuchung
Kinderbibeln und ihre thematischen Auslassungen
Abstract: H|D 75 (2021) 219–226
Kann Gott in Versuchung führen oder muss die sechste Vaterunser-Bitte „besser“ übersetzt werden? Der Beitrag geht der Bedeutung des griechischen Begriffs für Versuchung, peirasmós, anhand seiner Verwendung im Alten und im Neuen Testament nach und zeigt auf, dass die Bitte im Vaterunser zur Herausforderung wird, sobald das Evangelium den Raum der griechischen Sprache verlässt: Denn die Vielfalt an Aspekten des griechischen Wortes lässt sich schon im Lateinischen und auch im Deutschen nicht mit einem Wort wiedergeben. Am Schluss steht im Hinblick auf das Gesamtzeugnis der Schrift das Plädoyer, bei der aktuellen Übersetzung zu bleiben und die Spannung auszuhalten, die – wie sich zeigt – durchaus fruchtbar sein kann.
Mag. Oliver Achilles
arbeitete über 20 Jahre in der Pfarrpastoral und lehrt seit 2008 als wissenschaftlicher Assistent bei den THEOLOGISCHEN KURSEN in Wien
Altes und Neues Testament.
Heidi Lexe, Alexandra Hofer
Jesus ja. Passion nein?
Kinderbibeln und ihre thematischen Auslassungen
Abstract: H|D 75 (2021) 211–218
Das Thema Gewalt wird im Kontext nicht-biblischer Texte kaum problematisiert. In Bibelausgaben für Kinder hingegen scheinen Gewaltszenen weitgehend tabuisiert zu werden – selbst die Passion. (Redaktion)
Dr. Heidi Lexe
ist Leiterin der STUBE – Studien und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur, Herausgeberin des Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur
der STUBE und Mitglied der Jury zum Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis
der Deutschen Bischofskonferenz.
Mag. Alexandra Hofer
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der STUBE.
Ingrid Fischer
Mehr als ein verlorener Karsamstag
Zum Schwund herausfordernder theologischer Motive im
Stundenbuch am Beispiel der Trauermetten
Die Reform der Tagzeitenliturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil brachte grundlegende Änderungen in Vollzug und Verständnis der Psalmen im Stundengebet. Am Beispiel der sogenannten Trauermetten reflektiert der Beitrag wesentliche Veränderungen und die damit einhergehenden inhaltlichen Verschiebungen: Die Auswahl der Psalmen und der sie deutenden Antiphonen haben in der geltenden Ordnung den „Schrei (Jesu) aus der Tiefe“ verstummen lassen; in optimistischer Heilsgewissheit wird der österliche Triumph vorweggenommen, wodurch die Identifikationsmöglichkeit mit existenziellen menschlichen Erfahrungen der Gottferne verloren ging.
Mag. DDr. Ingrid Fischer
arbeitet als Programmleiterin bei den Wiener Theologischen Kursen, AKADEMIE
am DOM. Seit 2014 ist die Liturgiewissenschaftlerin Mitglied in der Redaktion von
Heiliger Dienst.
Bettina Wellmann
„Schaut zu, wie der Herr euch
heute rettet“ (Ex 14,13)
Was fehlt, wenn die Lesung von Exodus 14 in der Osternacht fehlt?
Abstract: H|D 75 (2021) 197–201
„Versuch nicht zuerst, die Bibel zu verstehen. Lass dich auf sie ein. Deine Geschichte beginnt mit ihr, wenn der Widerstand in dir gegen sie wächst.“ (Wilhelm Bruners)
Die Erzählung vom Tod der Ägypter für die Rettung Israels löst Widerstände in vielen Feiergemeinden aus. Sie deshalb nicht zu Gehör zu bringen, enthält den Feiernden etwas vor.
Dr. Bettina Wellmann
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Katholischen Bibelwerk e. V.
Detlef Hecking
Von der Bindung Isaaks in der Ostervigil
Gen 22 als Chance und Herausforderung
Abstract: H|D 75 (2021) 189–196
Der Beitrag arbeitet die Offenheit, das Ungesagte der Erzählung von der Bindung Isaaks heraus und eröffnet so eine Teilnehmer*innen-Perspektive (im Gegensatz zu einer Beobachterposition). Das mindert nicht die Unerträglichkeit des Erzählten, verbindet aber mit menschlichen Erfahrungen der Unbegreiflichkeit Gottes. In der Osternacht verkündet, trägt die Lesung in die Osterbotschaft ein, was die Evangelien mit der dreitägigen Todesnacht Jesu nur andeuten: die mit dem Tod Jesu nicht übergehbare radikale Infragestellung seiner Botschaft vom nahegekommenen Gott, der sich aber letztendlich jedesmal als Gott des
Lebens erweist.
Detlef Hecking
ist Pastoralverantwortlicher im Bistum Basel / Schweiz und Lehrbeauftragter für
Neues Testament am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern.
Von 2012–2021 war er Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Kath. Bibelwerks in Zürich.